Einfacher - ist es nicht das Gleiche
ein Zwischenbericht zum Bau des Science Centers Wolfsburg

In Wolfsburg entsteht ein sogenanntes Science Center, eine neue Art von Museum für Naturwissenschaften und Technik, genannt Phaeno. Darin werden die Besucher in Experimenten 250 Phänomene aus Naturwissenschaften und Technik unmittelbar erleben und verstehen können. Den Wettbewerb hat die Londoner Architektin Zaha Hadid gewonnen.

Das Science Center ist ihr erstes großes Projekt in der Formensprache, für die sie berühmt ist. Es ist architektonisch, geometrisch, statisch, als Konstruktion u n d für die Bauausführung nahe der Grenze des Vorstellbaren. Die höchst spannende Aufgabe, die kunstvollen Bilder in eine konkrete Konstruktion zu verwandeln, tragfähig, ausführbar und bezahlbar, ist der Ingenieurgruppe Tokarz Frerichs Leipold, Hannover, in Zusammenarbeit mit dem Ingenieurbüro Adams Kara Taylor, London, und dem Lörracher Architekturbüro Mayer Bährle zugefallen.

Das Gebäude ist eine Skulptur von 142 m größter Länge und 80 m größter Breite, größer als ein Fußballfeld. Die Ausstellungsebene wird von 10 verschieden großen, verschieden geformten auf ihren Spitzen stehenden kegelförmigen Körpern 7 m über das Gelände gehoben. In den Kegeln befinden sich die Eingangshalle, ein Hörsaal, ein Restaurant, ein großer in Stufen nach oben sich windender Laden, Werkstätten und Treppen, ein Ensemble von überraschendsten Raumfolgen.

Was ist das Besondere an dieser Architektur?

Sie hat wenig Ähnlichkeit mit gewohnten Bauwerken. Auffällig auf den ersten Blick: Innen sind alle Wände geneigt. Die Außenwände und Fassaden stehen zwar vertikal, die Fenster in den Fassaden liegen jedoch in geneigten Bändern. Die Übergänge von den Wänden zu den Decken sind mit großem Radius ausgerundet, so als trügen die Kegel die Decken "auf Händen". Es scheint keine rechten Winkel zu geben. Die Öffnungen für die Türen und Fenster sind überwiegend schiefwinklig ausgeschnitten, selbst ihre Leibungen sind im Horizontalschnitt schiefwinklig. Es ist eine extrem körperhafte Architektur, Gegenbild zu den heute modernen, ja modischen abstrakten spiegelnden Glasflächen.

Was ist das Besondere dieser Architektur als Konstruktion?

Diese Architektur scheint bewußt gegen konstruktive Vernunft entworfen. Ihr Neuigkeitsgrad rührt zu einem beträchtlichen Grad daher, daß sie das Gewohnte spielerisch oder gewaltsam außer Kraft setzt.

Die Kegel, genannt Cones, stehen nicht wie die Pyramiden auf ihrer größten Fläche, so daß der tragende Querschnitt mit der Last zunimmt, sondern gegen die konstruktive Logik auf der Spitze. Ihr tragender Querschnitt nimmt also mit zunehmender Last ab, so daß ihre Beanspruchung überproportional steigt. Die Kegel stehen als Ganzes schief, zum Teil heftig geneigt. Unter den vertikalen Lasten entstehen hieraus horizontale "Abtriebskräfte".
Deswegen muß die ganze Hauptebene zusammenwirken, so daß die Abtriebskräfte zu den tragfähigsten Stellen geleitet werden. Sie muß deswegen trotz ihrer Größe fugenlos sein und vollständig bis zur völligen Fertigstellung eingerüstet bleiben. Das System wirkt nur als Ganzes mit erträglichen Beanspruchungen.

Die Decken über EG, zugleich Boden der Hauptebene der Ausstellung, werden als Trägerroste konstruiert. Diese in vielen Richtungen gleich tragfähige Konstruktion ist notwendig, da die stützenden Kegel völlig ungleich geformt und verteilt sind, die Haupttragrichtung also ständig wechselt. In Folge davon gibt es allerdings auch so gut wie keine 2 gleichen Träger und einen entspechend gigantischen Aufwand an Bewehrungsplänen.

Ursprünglich sollte jede der 2 Trägerscharen der Umrißform des Grundrisses entsprechend fächerförmig angeordnet sein, so daß jede Schar parallel zu einem Rand beginnt und endet. Es hätte bei einer Decke größer als ein Fußballfeld keine 2 gleichen Schalkörper gegeben.

Bei der Stahlkonstruktion des Daches wird diese extreme Forderung verwirklicht. Hier jedoch wurde der Vorschlag aufgenommen, die 2 Trägerscharen aus parallel zueinander liegenden Trägern zu bilden, die sich dann jedoch unter einem schiefen Winkel kreuzen. So ergibt sich für das Auge praktisch das gleiche ungewöhnliche Bild. Als Konstruktion allerdings ist jede Einzelheit neu, am kompliziertesten, wo die Deckenebenen in der Höhe verspringen, in schiefem Winkel zur Haupttragrichtung.

Wie sieht der Ingenieur seine Aufgabe angesichts solcher Projekte?

Es gibt 2 entgegengesetzte Möglichkeiten. Man könnte es als seine Aufgabe ansehen, möglichst alles zu verwirklichen, was den Architekten einfällt, und sei es noch so unnötig problematisch, ja abwegig als Konstruktion. Irgendwie geht ja fast alles. Die Leidenden sind die, die später die Ausführungsplanung verwirklichen müssen, in der nicht das kleinste Detail ungelöst bleiben darf.

Die 2. Möglichkeit eignet sich für Ingenieure, die viel wissen, viel können, vor allem viel
s e h e n , so daß sie Vorschläge machen können, die zugleich die Konstruktion u n d die Architektur vollkommener machen. Sie sind völlig überzeugt, daß eine gute Konstruktion eine zwingend notwendige Eigenschaft guter Architektur ist.

Allererste Bedingung ist, daß die Ingenieure der 2. Kategorie vom ersten Augenblick des Entwurfs dabei sein müssen. Und sie müssen nicht nur fachlich gut sein sondern sie müssen auch eine "ergiebige" Einstellung haben. Ein Brecht-Zitat hierzu (aus dem Arbeitsjournal, notiert 1948, zitiert nach der Stuttgarter Zeitung vom 13. März 2004):

" ... ein realistischer künstler ist, wer in künstlerischen werken der wirklichkeit gegenüber eine ergiebige haltung einnimmt."

Was ist das, diese "ergiebige Einstellung" im Falle der Architektur?

Es gibt gute und schlechte Konstruktionen in j e d e r Architektursprache. Die Konstruktion ist ein Element dieser Sprache. Sie kann, wie in der gesprochenen Sprache, genau, individuell, anschaulich und ausdrucksvoll sein oder vage, schematisch und ohne Ausdruck.

Natürlich wissen auch die Architekten, daß vertikale Wände einfacher und billiger sind als geneigte, daß ebene Wände einfacher und billiger sind als gekrümmte, ein rechtwinkliger Trägerrost einfacher ist als ein schiefwinkliger ... .Ebenso ist ein Gesäß leichter zu modellieren als ein Gesicht. Aber das Ergebnis ist nicht etwas Gleiches, nur einfacher gemacht, sondern es ist etwas ganz Verschiedenes.

Der Sinn der Konstruktionsarbeit ist es, das Verschiedene, eben das Andere herauszuarbeiten, nicht abzuschleifen. Und die Kunst dabei ist, das mit geringst möglichem Aufwand zu machen.

Wichtigste Maxime des Arbeitens in jedem Falle: die logischere günstigere Konstruktion muß die Qualität der Form steigern, nicht abschwächen. Das gilt für die Konstruktion als Ganzes, aber noch entschiedener für ihre Details. Sie bestimmen am stärksten die Qualität und den Ausdruck der Architektur aus der Nähe.

Fast nichts der Konstruktion wurde tatsächlich so gemacht, wie es im Vorentwurf ursprünglich gedacht war. Aber es hätte in einem frühen Stadium, in dem wir noch nicht beteiligt waren, noch vieles mehr vorausgesehen werden können, was früh leicht, in einem späteren Stadium nicht mehr durchgreifend änderbar ist, auch aus Gründen des Zeitplans. Nie wird man allerdings bei solchen Bauten alle Schwierigkeiten voraussehen. Für sie gibt es keine Erfahrung, außer der, daß man sie erst ganz erfaßt hat, wenn die letzte Arbeit getan ist. Und keine Gebührenordnung erfaßt die Menge an Arbeit, die dazu notwendig ist!

Ich bin gespannt, ob das fertige Werk etwas von dieser Kunst und diesen übermenschlichen Mühen ahnen läßt!

Prof. Dipl.-Ing. Bernhard Tokarz
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